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Hölle mitten im Jubel

Fußball und Folter: Argentinien und die WM 1978

Hölle mitten im Jubel

Er führte Argentinien in einer dunklen Zeit zum ersten WM-Titel: Mario Kempes.

Er führte Argentinien in einer dunklen Zeit zum ersten WM-Titel: Mario Kempes. imago

Aus Brasilien berichtet Jörg Wolfrum

Diese Explosion der Leidenschaft hat vielleicht sogar den Lauf der Fußball-Geschichte beeinflusst, indem sie den Ruf des einen oder anderen Fußballers als Widerständler gegen die dunkle Seite der Macht erhöht hat. Dieser Ausbruch des Jubels. So laut, dass ihn selbst die Gefangenen im Folterlager der Marineschule ESMA ein paar Hundert Meter entfernt vom Monumental-Stadion hörten.

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In ihren Zellen saßen sie, Stunden oder Tage vor ihrem Tod, und da hörten diese Verschleppten den Ausbruch der Freude aus dem nahen Stadion. Doch den anderen Ausbruch, den wirklich wichtigen zurück ins Leben, den schafften die meisten nicht mehr. Sie wurden aus den Flugzeugen über dem Rio de la Plata abgeworfen, oft bei lebendigem Leib.

Nicht weit vom Ufer des einem Meer gleichenden Flusses steht auch das Monumental, in dem Argentinien seinen ersten WM-Titel errang an diesem 25. Juni 1978. Nachdem bereits der Schlusspfiff im Rausch der Gefühle untergegangen war, nachdem das 3:1 amtlich war gegen die bemitleidenswert tapferen Niederländer, die sich da zunächst 90 Minuten lang gegen elf plus 60.000 weitere Argentinier gestemmt hatten, ehe sie in der Verlängerung passend zur bleiernen Zeit überrollt wurden. Nachdem der Erfolg also eingefahren war, da hatte dann vielleicht auch das Schicksal ein Auge auf Stars wie Mario Kempes und Trainer Cesar Luis Menotti.

Siegerehrung geht in überbordendem Jubel unter

Denn kaum war die Siegerehrung inmitten des Platzes im Gange, ging sie auch schon unter im überbordenden Jubel der das Feld stürmenden Fans. Diktator Jorge Rafael Videla hatte Kapitän Daniel Passarella den Pokal übergeben, den ersten Spielern noch die Hand geschüttelt, dann verlor sich alles im Delirium der Fans. Ganz am Ende der Reihe hatten Kempes und Menotti gestanden. Kam es noch zum Handschlag, als sich alles auflöste? Man weiß es nicht. Sie entgingen damit jedenfalls den Bildern, die heute so schlecht ankämen.

Wir sind politisch missbraucht worden.

Ricardo Villa

Es reicht ja schon, wenn man die Aufnahmen kurz vor der WM sieht, da hatte der De-Facto-Staatschef Videla die Albiceleste in die Casa Rosada, den Präsidentenpalast im Zentrum von Buenos Aires eingeladen. Da gibt es diese Aufnahmen, wie der Diktator jedem die Hand schüttelt und mit strengem Blick in die Augen schaut. Am besten, so der General, der sich am 24. März 1976 an die Macht geputscht hatte, sollten sie doch den Titel holen, in jedem Fall aber das Trikot Argentiniens mit Stolz verteidigen.

Das taten sie dann auch, doch gaben Spieler wie Osvaldo Ardiles oder auch Ricardo Villa später offen zu, wie zweischneidig das alles war. "Wir sind politisch missbraucht worden", meinte etwa Stürmer Villa, Mittelfeldmann Osvaldo Ardiles erklärte: "Ob wir wollen oder nicht, wir haben einer kriminellen Regierung geholfen." Doch es stimmt ja auch, was Stürmer Kempes sagt, konfrontiert mit der Kritik, der WM-Titel sei aus Sicht des Auslands beschmutzt, allein schon deshalb, weil die Junta an der Macht war und das Turnier für seine Propaganda-Zwecke missbrauchte: "Was drumherum geschehen ist, dafür können wir auch nichts."

Siegerehrung: Daniel Passarella kurz vor der Pokalübergabe.

Siegerehrung: Daniel Passarella kurz vor der Pokalübergabe. imago

Gekaufte Spiele, geschenkte Elfmeter: Mythos oder Wahrheit?

Etwa das ominöse 6:0 in Rosario gegen Peru im letzten Spiel der Finalrunde. Da Brasilien schon am Nachmittag spielte und nicht zeitgleich, wussten die Gastgeber, dass mindestens ein Sieg mit vier Toren her musste, um ins Finale einzuziehen. Zudem erhielt Peru vor dem Spiel in der Kabine ganz entgegen des Protokolls plötzlich Besuch von Diktator Videla - und dem ehemaligen Außenminister Henry Kissinger. Es heißt, ein Kredit über 50 Millionen Dollar und eine riesige Lieferung Getreide an Peru sei an Argentiniens Finaleinzug geknüpft gewesen. Gerüchte, natürlich, bewiesen ist nichts, auch wenn selbst aus Peru in den letzten Jahren immer wieder pensionierte Militärs sich mit vermeintlichen Details zu Wort meldeten.

Dabei hätte Argentinien das Spiel gegen das damals ja starke Peru anfangs fast vermasselt, einen Pfostenschuss der Gäste und eine weitere Großchance zugelassen - es hätte leicht 0:2 stehen können, doch selbst dann hätten die am Ende sechs Tore noch gereicht. Ob sie dann allerdings von einer verunsicherten Heimmannschaft auch geschossen worden wären?

Doch Fakt ist auch, dass der Mythos, wonach die Schiedsrichter Argentinien bei dem Turnier beständig bevorzugt hätten, auf mangelnder Information fußt. So erhielt Argentinien beim 2:1 gegen Frankreich in der Gruppenphase nach einem Handspiel Tresors einen berechtigten Elfmeter, den Passarella zum 1:0 verwandelte. Weil die Szene, psychologisch für die Equipe Tricolore ungünstig, unmittelbar vor der Pause stattfand, hält sich aber noch heute das Gerücht vom geschenkten Penalty. Dabei war den Gastgebern ja schon beim 2:1-Auftaktsieg gegen Ungarn ein Tor wegen Abseits zu Recht aberkannt worden.

Rasierter Kempes verhindert den Super-GAU

Hatte 1978 im WM-Finale gegen Argentinien das Nachsehen: Der Niederländer Johnny Rep.

Hatte 1978 im WM-Finale gegen Argentinien das Nachsehen: Der Niederländer Johnny Rep. imago

Am Tag des Finales von Buenos Aires, avancierte Mario Kempes mit einem Doppelpack gegen die Niederländer zum Helden. Jener Kempes, der in der Gruppenphase in drei Spielen leer ausgeblieben war und sich dann auf Bitten von Trainer Menotti vor der Finalrunde den Bart stutzte. "Anfangs wollte ich nicht, weil es ja Winter war und kalt." Er hat es dann doch gemacht - und gleich gegen Polen beide Tore zum 2:0 beigesteuert, sowie einen verhindert, indem er auf der Linie gegen die Europäer per Hand eingriff.

Er sah damals nicht Rot, weil es das Regelwerk nicht vorsah. Und nicht etwa, weil der Schiedsrichter den Gastgeber nicht schwächen wolle, wie es manchmal heißt. Den fälligen Elfmeter vergab Deyna in seinem 100. Länderspiel.

Kempes also avancierte an jenem "kühlen Nachmittag" des 25. Juni 1978 zum Helden einer Nation, seine Treffer zum 1:0 und sein 2:1 erzielte er aufgrund seines Torinstinkts und des unnachahmlichen Antritts, hinein gespurtet in die Lücken jeweils, das zweite Tor bugsierte er nach einem Abpraller gegen Keeper Jongbloed gar mit der Sohle ins Tor. Es war die Vorentscheidung, "und dass ich allein jubelte, war wahrscheinlich deshalb, weil jeder fühlte: jetzt bin ich Weltmeister", so Kempes im Frühjahr zum kicker.

Ein Fußball-Drama ging mit diesem Treffer in der 105. Minute auf die Zielgerade, eines, das mit der Verzögerung beim Anpfiff wegen René van de Kerkhofs Tape-Verband am Handgelenk begonnen hatte. Kapitän Passarella wollte Oranje verunsichern und begann eine minutenlange Diskussion.

Dass man uns etwas gegeben hätte, um die 30 Minuten durchzustehen, ist Schwachsinn!

Mario Kempes

Dennoch: "Fillol rettete uns anfangs", so Kempes über den eigenen Keeper. Die Niederlande spielten zunächst abgeklärter, doch dann erzielte der "Matador" in der 38. Minute die Führung - und als alles nach einem Sieg der Gastgeber aussah, war plötzlich die linke Abwehrseite weit offen, es kam die Flanke und der Ausgleich per Kopf durch Dick Nanninga (81.). Und in den Schlusssekunden traf Rensenbrink gar den Pfosten.

Es wäre der Super-GAU nicht nur für die Spieler sondern auch für die Propagandamaschinerie der Militärs gewesen. So aber kam die Verlängerung und den Gästen ging die Luft aus. "Dass man uns etwas gegeben hätte, um die 30 Minuten durchzustehen", sei "Schwachsinn", regt sich Kempes immer mal wieder auf. Beim finalen 3:1 (115.) war er auch beteiligt, nachdem er den Ball aus dem Mittelfeld bis in den 16er getragen hatte, landete die Kugel dann in Flipper-Manier bei Daniel Bertoni - der Rest ging in einer Explosion aus Leidenschaft fast unter.

In Aktion: Argentiniens Schlussmann Ubaldo Fillol.

In Aktion: Argentiniens Schlussmann Ubaldo Fillol. imago

Nicht jedoch, dass die Niederländer mit ihrem österreichischen Trainer Ernst Happel der Siegerehrung fernblieben, aus Protest gegen die Militärdiktatur. Es gibt Bilder der ermatteten Oranje-Spieler, wie sie in der Kabine den Frust über die zweite Final-Niederlage nach 1974 in Folge wegrauchten. Johan Cruyff war nicht mit dabei gewesen bei dem Turnier, auch da hielt sich lange die Legende, er habe aufgrund der politischen Lage in Argentinien Abstand genommen, letztlich waren es persönliche.

Heute im Ausland fast auch vergessen - außer bei Diego Armando Maradona -, dass eben der damals knapp 18-jährige Goldjunge von Trainer Menotti als einer der letzten aus dem WM-Kader gestrichen worden war. Bis heute ein Trauma für Maradona, der ja gerne noch viel größer wäre als Pelé.

Was war mit Menottis verweigertem Handschlag?

Und Menotti und der vermeintlich verweigerte Handschlag? Es gibt nur diese letzten Einstellungen der Siegerschlange auf dem Podest, bevor sich alles auflöst. Wahrscheinlich war eine Verweigerung des Handschlags also nicht nötig. Selbst wer oft und lange mit Menotti spricht, kommt in diesem Punkt nicht wirklich weiter. Unzweifelhaft ist indes: Menotti war und ist als bekennender Linker weit davon entfernt, Sympathie für die Militärs zu empfinden. Darüber spricht er gerne, eloquent und glaubwürdig. Aber der Satz: "Ich habe den Handschlag verweigert", hört man nicht von ihm. Er will sich da nicht größer machen oder die Geschichte verfälschen, er musste ihn ja vermutlich gar nicht verweigern, den Handschlag, jedenfalls diesen auf dem Platz. Menotti kam, zumindest unmittelbar nach dem Finale, gar nicht in die Situation dazu.

Überraschend nur auf den ersten Blick ist indes, dass es keine Bilder von Menotti und auch Goalgetter Kempes mit dem Pokal gibt. "Passarella und ein paar andere hatten ihn immer in der Hand", erinnert sich der entscheidende Mann des Finales, der insgesamt sechs Tore zum Titel erzielte. "Und später hatten ihn die Militärs oder wer auch immer." Er, Kempes, habe den Cup erst 1998 im Zuge einer TV-Dokumentation berührt. Berührend auch das vielleicht schönste Bild jenes Juni-Abends von 1978: Ein armamputierter Fan ist da mit den sich umarmenden Alberto Tarantini und Ubaldo Fillol zu sehen. Alle drei wurden unlängst für einen Werbespot wieder vereint.

Gefangen im Jubel: Psychische Folter nach dem Finale

Nie wieder vereint wurden tausende Familien. 30.000 Vermisste und Tote sind die Bilanz der bis 1982 dauernden Militärdiktatur. Es gibt Gefangene, die überlebt haben und davon berichteten, wie sie nach dem Finale psychisch gefoltert wurden, indem sie von Militärs unter Aufsicht mit unter die jubelnden Fans genommen wurden. "Hätte ich schreien sollen, dass ich eine der Vermissten bin? Keiner hätte mir geglaubt. Und schlimmer noch: Es hätte keinen interessiert", so eine schockierend zutreffende Aussage einer damals Verschleppten. Es sei die Hölle gewesen, inmitten allen Jubels.

WM-Finale 1978: Als Kempes die Junta glücklich machte