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Lieblingsspiel: Dem Himmel so nah

Campeonato Brasileiro A, AF Chapecoense - EC Vitoria BA, 16. November 2017

Lieblingsspiel: Dem Himmel so nah

"Vaaaamos, vamos Chapeeee":  Arena Condá

"Vaaaamos, vamos Chapeeee": Arena Condá kicker

Sintflutartiger Regen begleitete das Wunder an jenem Novemberabend 2017 im Städtchen Chapecó im Süden Brasiliens. Gerade so, als ob die seit einem Jahr vergossenen Tränen die Arena Condá noch einmal überschwemmten. Das nach einem indigenen Freiheitskämpfer benannte Stadion, in dem ein Jahr zuvor noch dutzendfach Särge aufgebahrt waren. Särge mit Leichen von Spielern, Betreuern und Funktionären der AF Chapecoense.

In der Nacht vom 28. auf den 29. November 2016 war ein von Chapecoense gechartertes Flugzeug der bolivianischen Airline LaMia auf dem Weg zum Finalhinspiel um die Copa Sudamericana gegen Atletico Nacional in Kolumbien abgestürzt. 71 von 77 Menschen an Bord starben - neben 19 Profis und zahlreiche Mitglieder aus dem Betreuerstab auch der damalige Trainer Caio Junior. Zu Ehren der 71 Todesopfer wurde fortan in der 71. Minute eines jeden Spiels in der Arena Condá "Vaaaamos, vamos Chapeeee" skandiert. Unter den sechs Überlebenden waren ein Reporter aus Chapecó, Rafael Henzel, und auch drei Spieler: Jakson Follmann, Helio Neto und Alan Ruschel.

zum Spiel

Das war der Hintergrund vor dem man sich bewegte am 16. November 2017, als man durch Chapecó lief: erst zum Bäcker und dann zum Kiosk, später zum Mittagessen und dann irgendwann zur Arena Condá. Es war eine fast unwirkliche Atmosphäre: Gespenstische Stille fast den Tag hindurch. Zwar war es Donnerstag und damit ein Werktag. Aber angesichts flirrender Hitze war nicht viel los auf den Straßen, die Leute verkrochen sich in Cafés und Geschäfte mit Aircondition.

Eine Prozession zieht zum Stadion

Erst am frühen Abend machte sich eine Karawane zur Arena. Wobei: Der Zug der Fans erinnerte eher an eine Prozession, einem Gedenken an die 71 Toten. Anfeuerungsrufe jedenfalls waren nicht zu hören. Aber viele Anhänger trugen Trikots der verunglückten Spieler, etwa von Torhüter Danilo, dessen tolle Parade "Chape" 2016 in Argentinien gegen San Lorenzo überhaupt erst ins Finale der Copa Sudamericana gebracht hatte.

Am Vortag des Ligaspiels, das Chapecoense 2017 Klassenerhalt sicherte, war man schon einmal im Stadion. Sprach mit Trainer Kleina und dessen Assistenten, der den Besucher aus Deutschland dann sogar zurück ins Zentrum fuhr. Man sprach auch mit Jakson Follmann, also einem der drei Profis, die den Absturz überlebt hatten. Ein Unterschenkel musste dem Torwart amputiert worden, die sportliche Karriere war damit beendet.

Neto scherzte nicht, Neto sprach leise

Aber Follmann lebte, und er feierte ein Jahr nach dem Absturz das Leben: Er herzte und scherzte im Bauch der Arena, auch mit Menschen, die er zuvor nie in seinem Leben gesehen hatte. Wie den kicker-Reporter.

Aber da war auch Verteidiger Helio Neto. Auch er ein Überlebender des Absturzes. Neto scherzte nicht, Neto sprach leise, den Blick in die Ferne gerichtet. Er erkämpfte damals noch um sein Comeback, mittlerweile hat er die Karriere beendet, ohne auf den Platz zurückgekehrt zu sein.

Mittelfeldspieler Alan Ruschel, der dritte Überlebende, war schon im Sommer 2017 beim Einladungsspiel des großen FC Barcelona um die Trofeo Gamper wieder zum Einsatz gekommen. Ruschel wurde dadurch eine Art Star.

Heute ist Ruschel 30 und muss, wenn es die Corona-Pandemie wieder zulässt, mit der AF Chapecoense in der 2. Liga ran. Denn im Dezember 2019 stieg der Klub ab, im sechsten Jahr seiner Erstligazugehörigkeit, im Jahr drei nach der Tragödie

kicker-Reporter Jörg Wolfrum (li.) vor Ort in Brasilien. kicker

2017, im Jahr eins nach dem Flugzeugabsturz, hatte "Chape" den Abstieg noch vermieden. Wie Phönix aus der Asche war der Klub im Jahr nach der Tragödie wieder auferstanden: hatte Spieler ausgeliehen und losgelegt. Nicht, als wäre nichts. Sondern immer in Gedenken an die Verstorbenen. Nur Monate nach dem Flugzeugabsturz gewann Chapecoense so die Regionalmeisterschaft von Santa Catarina. Schon das: ein kleines Fußball-Wunder.

Alle rechnen mit dem Wunder

Ein halbes Jahr später dann, an jenem 16. November 2017, das große Wunder. Und das Wundersame daran: Alle gehen an jenem Tag fest davon aus, dass das Wunder eintritt. Dass also der Klassenerhalt unter Dach und Fach gebracht wird. Deshalb gleicht der Fußmarsch in die Arena Condá auch eher einer Prozession denn einem Aufmarsch von Fußballfans.

"Heute wird´s was geben", scherzt vor der Arena der Trikotverkäufer und der am Hamburger-Grill, da ist man schon drinnen, meint: "Heute essen wir den Sieg." Ein Wortspiel, es geht ja gegen Vitoria aus Bahia, also den Klub "Sieg" aus Bahia. Auf der Tribüne sind alte Damen bester Laune, und gut drauf ist auch Radioreporter Henzel.

"Komm einfach in die Kabine", sagte Henzel am Telefon. So, als ob man sich schon ewig kennt. Und dann ist man da. Weil aber die Kabine so klein ist, steht man hinter ihm, Platz für einen weiteren Klappstuhl ist nicht.

Henzel stimmt erstmals den "Goooooool"-Ruf

Nur Wochen nach dem Absturz hatte Henzel erstmals wieder ein Chapecoense-Spiel für seinen Arbeitgeber Radio Oeste Capital FM kommentiert.

An diesem 16. November 2017 muss Henzel zunächst vom 1:0 für Vitoria berichten. Voraus ging kapitaler Fehler von "Chape"-Torwart Jandrei. Doch nur fünf Minuten später trifft Arthur Caike per Kopf, Chapecoense gleicht aus. Henzel stimmt erstmals an diesem Abend den "Goooooool"-Ruf an. Es ist der erste Gänsehaut-Moment der Nacht.

Dann ist Halbzeit. Die Stimmung: gechillt. Gefühlt Familientreffen statt Abstiegskampf. Schwätzchen hier, Plausch da. Wann hat es eigentlich angefangen zu regnen? Man hat es gar nicht bemerkt.

Erst leicht. Dann immer stärker. Dann stoppt der Regen wieder.

Der Regen - ein steter Gruß von oben

Dann kommt Minute 71 und der zweite Gänsehaut-Moment. Zu Ehren der 71 Todesopfer wird in der Arena Condá "Vaaaamos, vamos Chapeeee" skandiert. Erst leise, dann immer lauter. Fast so, als übernehme Freiheitskämpfer Condá die Regie. Aus dem Jenseits. Den Regen hat er schon geschickt, ein steter Gruß von oben.

Dann Gänsehautmoment drei. Tulio de Melo köpft das 2:1 und feiert es mit einem Flickflack. Der Ball will jetzt in den Regenlachen gar nicht mehr rollen. "Gooool", intoniert Henzel, "Gooooooooool". Es ist der Sieg, es ist der Klassenerhalt, drei Spieltage vor Saisonende.

Als das Spiel vorbei ist öffnet Freiheitskämpfer Condá im Himmel endgültig die Schleusen. Auch Vitoria-Trainer Vagner Mancini vergießt Tränen der Rührung. Er war Monate zuvor der erste Trainer Chapeconeses nach dem Flugzeugabsturz gewesen, wurde dann aber gefeuert.

Zu Gast bei Chapecoense in Brasilien. kicker

Nun steht Mancini in der Arena Condá und diese wie eine Arche Noah inmitten einer Sintflut. Die Arena hat alle aufgenommen: den heimgekehrten Siegtorschützen de Melo, der im Unglücksjahr an Sport Recife ausgeliehen war, was ihm vermutlich das Leben gerettet hat, die Überlebenden Ruschel, Follmann und Neto, die Hinterbliebenen der Opfer, die neuen Spieler, die auf Schritt und Tritt an ihre toten Vorgänger erinnert werden.

"Wir haben allen Widrigkeiten getrotzt. Das ist ein Ausrufezeichen für Brasilien", jubelt der damals neue Präsident Plinio David de Nes Filho. Sein Vorgänger: tot. Als der Regen aufhört, steht man mit Vizepräsident Ivan Tozzo hinter dem Tor, in das eine Stunde zuvor de Melo getroffen und so den Klassenerhalt gesichert hatte. Tozzo lebt nur, weil er die Reise mit der Unglücksmaschine verpasste. Er legt dem Besucher aus Deutschland die Hand auf die Schulter und sagt: "Schreiben Sie, was sich hier ereignet hat."

Am Ende der Saison schafft Chapé sogar Tabellenplatz acht. Noch vor den Großklubs Atletico Mineiro, Botafogo, FC Sao Paulo oder Fluminense.

2019 dann doch der Abstieg. Rafael Henzel hat ihn nicht mehr erlebt. Der Radioreporter schrieb nach der Flugzeugtragödie ein Buch. "Das Leben ist ein Segen. Lasst es uns nicht vergeuden", heißt es darin. Im März 2019 starb er an einem Herzinfarkt. Beim Fußballspielen. Im Dezember 2019 stieg die AF Chepecoense ab.

Jörg Wolfrum